Anmerkungen der LAGfAD e.V. zum Entwurf RV3 Soziale Teilhabe

27.4.2021

Sehr geehrte Frau Roth,  

der Entwurf zum RV3 ist immer noch durch die Haltung geprägt, dass die “besondere Wohnform“ die geeignete “Unterbringungsform“ für Menschen mit einem hohen und/oder komplexen Unterstützungsbedarf sei. Dieses Bild entspricht weder der gelebten Realität von Menschen, die mit Hilfe der Unterstützung von ambulanten Diensten selbstbestimmt in der eigenen Wohnung leben, noch den Vorgaben der UN-BRK, die das Recht auf Leben in der eigenen Häuslichkeit unabhängig von Art, Umfang und Zeitpunkt des Unterstützungsbedarfes anerkennt.

Im Abschnitt zu den “Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie in Form des Begleiteten Wohnens in einer(Gast-)Familie gem. § 80 SGB IX“ wird deutlich ausformuliert, was sich im restlichen Text nur an einigen Stellen zwischen den Zeilen finden lässt:

„Die Leistungen richten sich an Menschen mit Behinderung,

• die eine Unterstützung in einer besonderen Wohnform nicht benötig(t)en oder wünschen und/oder

• deren Bedarf durch Inanspruchnahme von Assistenzleistungen nach § 78 SGB IX in der eigenen Häuslichkeit nicht angemessen gedeckt werden kann …“

Von daher würde es die LAGfAD begrüßen, wenn in der Präambel oder den Grundsätzen ausdrücklich benannt werden könnte, dass ein Recht auf Leben in der eigenen Häuslichkeit unabhängig von Art und Umfang des Unterstützungsbedarfes besteht. Zwingend erforderlich ist es aber, die Textstellen, die dieser Grundhaltung explizit zuwider laufen würden, entsprechend zu ändern. Dies betrifft im Besonderen die Textstellen zu qualifizierter und kompensatorischer Assistenz.

Qualifizierte und kompensatorische Assistenz:

Die qualifizierte Assistenz muss unabhängig vom Wohn- bzw. Lebensort auch für die dauerhafte Begleitung von LB bei komplexem Unterstützungsbedarf, auch wenn keine Aussicht auf eigenständige Übernahme der Aufgabe in der Zukunft besteht, möglich sein. Ansonsten würde man Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf (z.B. Menschen, die beim Einkauf vor allem Unterstützung im Umgang mit ihren Mitmenschen benötigen) von der wichtigen Teilhabesituation “ich gehe für meinen täglichen Bedarf in ein Geschäft einkaufen und treffe dabei auf andere Menschen“ ausschließen.

Mit der bisherigen Formulierung droht die Aufteilung in leichtgradig behinderte Menschen, die mit Hilfe einer qualifizierten Assistenz noch dazu befähigt werden können, Aufgaben in der Zukunft selbstständig erledigen zu können und schwerbehinderte Menschen, bei denen sich dieser Einsatz nicht mehr lohnt.

Die Aufteilung in kompensatorische und qualifizierte Assistenz sollte aber anhand der Komplexität der Aufgabenstellung erfolgen (die allenfalls ggf. indirekt mit dem Behinderungsgrad zusammenhängen kann).

Hierfür müssten die Formulierungen auf den Seiten 4 und 6 entsprechend ergänzt werden.

Seite 4:

• „qualifizierte Assistenz zur Befähigung zu einer eigenständigen Alltagsbewältigung gem. §78 Abs.2 Nr.2 SGB IX “ (ergänzt um:)… sowie zur

Begleitung der Leistungsberechtigten bei komplexem Unterstützungsbedarf

Seite 6:

• „2. die Befähigung zu und/oder die Erhaltung von Fähigkeiten der Leistungsberechtigten bei der eigenständigen Alltagsbewältigung (qualifizierte Assistenz). Dabei sollen Leistungsberechtigte die Bewältigung der Aufgabe erproben und einüben, um sie so weit wie möglich selbst zu übernehmen. Sie umfasst insbesondere die Anleitungen und Übungen in den o.g. Leistungsbereichen (nach § 78 Abs. 1 Satz 2 SGB IX).“ (ergänzt um:) Die qualifizierte Assistenz umfasst darüber hinaus die Begleitung der Leistungsberechtigten bei komplexem Unterstützungsbedarf.  

Qualifikation und Umfang des Personals für die qualifizierte Assistenznach § 78 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX (Seite 14)

Zu begrüßen ist die Regelung, dass keine Verpflichtung zum Einsatz qualifizierter Hilfskräfte besteht.  

Leistungen zur Sozialen Teilhabe und Zur Teilhabe an Bildung (Aufzählungspunkt6. auf Seite 5)

Uns ist weiterhin nicht nachvollziehbar, warum eine gesonderte Regelung für „Leistungen für Wohnraum durch Übernahme übersteigender Kosten der Unterkunft nur für besondere Wohnformen im SGB IX“ besteht und nicht generell, also wohnortunabhängig. Dies folgt aus unserer Sicht nicht der Auflösung von „ambulanten“ und „stationären“ Versorgungsstrukturen.

Bereitschaftszeiten:

Bei den Ausführungen zu den Bereitschaftszeiten in besonderen Wohnformen müssen die “besonderen Wohnformen“ gestrichen werden, da auch im ambulanten Setting Menschen mit diesem Bedarf unterstützt werden.

Zur Umsetzung der UN-BRK gehört es, Sozialräume zu schaffen, in denen entsprechende Dienste (Hintergrundleistungen) vorgehalten werden, um Leistungsberechtigten, die eine Erreichbarkeit eines Ansprechpartners benötigen, das Leben in einer eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Ansonsten droht diesem Personenkreis der Verweis auf die besondere Wohnform, weil nur dort dieser Bedarf gedeckt werden könne, was nicht der UN-BRK entspräche.

Wir verweisen in diesem Kontext auf Seite 3 des Entwurfs zur Personenzentrierung:

„Personenzentrierung bedeutet insofern auch eine Abkehr von der Angebotszentrierung. Gemeint ist damit, dass Strukturen und Organisationszwänge die Unterstützungsmöglichkeiten nicht dominieren sollen.“  

Mit freundlichen Grüßen,

Florian Boß

für die LAGfAD

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