Vorschläge zur Abgrenzung qualifizierter und kompensatorischer Assistenz

13.11.2020

Das Bundesteilhabegesetz befasst sich im § 78 mit dem Thema Assistenzleistungen inklusive einer Aufzählung von Leistungen und Hilfen, die über diesen Bereich des Rechtsanspruchs auf Eingliederungshilfe erbracht werden sollen. Die Form der Erbringung wird aber nur sehr unscharf in „teilweise und vollständige Übernahme“ und „Befähigung“ unterschieden, gleichzeitig wird die „Befähigung“ an Fachpersonal gekoppelt.  

Es ist begrüßenswert, dass im SGB IX auf ältere, kustodiale Begrifflichkeiten, wie „betreute Wohnformen“ verzichtet wird und der Begriff „Assistenz“ allgemein für unterstützende Hilfeleistungen eingesetzt wird. Der Begriff ist allerdings interpretationsfähig und ggf. missverständlich, da bisher Assistenz vor allem für pflegerische, hauswirtschaftliche und begleitende Hilfen, d.h. kompensatorische Unterstützung, verwendet wurde.  

Das Feld der kompensatorischen und qualifizierten Assistenzleistungen ist sehr weit gefächert, es wurden unterschiedlichste Leistungsbereiche kreiert und mit Finanzierungsmodellen versehen (z.B. Familienentlastung bzw. –unterstützung, Elternassistenz, auf der anderen Seite z.B. begleitete Elternschaft, Betreutes Wohnen, intensiv betreutes Wohnen, etc.).

Aus Sicht der LAG ist es erforderlich, dass die Zugänge zu den beiden Erbringungsformen in der Rahmenvereinbarung möglichst definiert und geregelt werden. Wir halten es für sinnvoll, einerseits auf fachlicher Ebene den Begriff „Befähigung“ zu definieren und abzugrenzen und andererseits den Zugang über den Unterstützungsbedarf zu differenzieren, ohne dabei besondere Situationen und Personenkreise mit umfänglichen Bedarfen auszugrenzen.

In der Vergangenheit haben wir häufig die Erfahrung gemacht, dass aufgrund unbestimmter Rechtsbegriffe und konkurrierender gesetzlicher Bestimmungen (z.B. EGH - §45 SGB XI), Maßnahmen zur Teilhabe in ihrer Umsetzung oder Wirkung beeinträchtigt wurden und eine Lösung nur per Gerichtsentscheid erreicht werden konnte. Wir halten es deshalb für erforderlich, Hilfeplanung und Bedarfsermittlung Orientierung zu bieten und möglichst Interessenskonflikte zwischen Leistungsträger und Leistungsberechtigten zu vermeiden.

Grundsätzlich unterscheiden sich qualifizierte und kompensatorische Assistenzleistungen an der Orientierung der Maßnahme:

Die qualifizierte Assistenz hat eine aktive, dynamische, auf Verbesserung oder Erhaltung des Zustandes gerichtete Orientierung. Unsere Kategorien und Schlüsselbegriffe:  

• Pädagogische Unterstützung zur Bewältigung des Alltags

Sozialpädagogische Unterstützungsleistungen dienen der Bewältigung von Fragen und Problemen der Alltags- und Lebensgestaltung, der sozialen Einbindung und Integration.  

• Psychosoziale Unterstützung

Die Entwicklung der Persönlichkeit (u.a. ein positives Selbstwertgefühl, bewusste Lebensplanung) und die Bewältigung von Krisensituationen sowie Verselbständigung und Ablösungsprozesse stehen im Mittelpunkt dieser Hilfemaßnahmen.

• Unterstützung beim Erwerb von Kompetenzen/Förderung des selbständigen Handelns

Fehlende eigene Handlungskompetenzen sind nicht einfach durch Übernahme durch Dritte zu ersetzen. Vielmehr gilt es, zur Bewältigung lebensalltäglicher Probleme pädagogische Hilfen bereitzustellen, um eine selbständige Übernahme zu initiieren, Anzuleiten und Kompetenzerwerb zu ermöglichen, die vorhandenen eigenen Kompetenzen zu verstärken und zu entwickeln. „Befähigung“ kann aber nicht nur zum Ziel haben, Handlungen allein zu vollziehen, sondern kann sich auch auf gemeinsames Handeln beziehen.

Maßgeblich für ein Gelingen ist der Aufbau und die Sicherung einer stabilen, professionellen Vertrauens- und Beziehungsebene, die es den Kunden ermöglicht, eigene Schwächen zu kompensieren und persönliche Orientierung und Stärke aufzubauen.  

Kompensatorische Assistenzleistungen haben eine primär ausgleichende Funktion. Sie dienen dem Ausgleich und der Unterstützung für die erforderlichen alltäglichen Tätigkeiten, die Menschen mit Behinderung - aufgrund ihrer spezifischen individuellen Beeinträchtigung - nicht ohne Hilfen auszuführen vermögen.

Alltagshilfen, wie Pflege, hauswirtschaftliche Hilfen, Mobilitätshilfen sowie begleitende Dienste zur zeitlichen und räumlichen Orientierung, die gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglichen.

Gekennzeichnet werden kompensatorische Assistenzleistungen durch: eingeschränkten Handlungsauftrag und Verantwortungsbereich, Anleitung erfolgt durch den Kunden selbst, Angehörige oder durch pädagogische Fachkräfte.

Eine weitergehende Aufgliederung in Handlungs- und Tätigkeitsfelder halten wir nicht für angebracht, da es sich in Hinblick auf die Bedarfsermittlung um eine Orientierung der Maßnahme handelt.

Wir möchten Ihnen die Notwendigkeit der Differenzierung aber auch Möglichkeiten des Umgangs mit fließenden Übergängen anhand einiger beispielhafter Situationen aus der Praxiserfahrung der Dienste der LAG erläutern:

Eine Woche hat 168 Stunden. Im ursprünglich angedachten klassischen Setting des Betreuten Wohnens (das in den unteren Leistungsgruppen abgebildet wird) finden nur wenige Stunden (2-3 Stunden) face to face Kontakte pro Woche statt. In diesen geht es nicht nur um konkrete Aufgaben in den einzelnen Bedarfsbereichen, sondern parallel auch darum, dass die Person in den restlichen 165 Stunden allein zurechtkommen kann. Dazu gehört die Verständigung darüber, was in diesen 165 Stunden zu tun ist, die Ermutigung dazu, dies allein schaffen zu können und der Aufbau von Vertrauen, dass bei Bedarf Unterstützung da sein wird.

Diese Zeit ist eh so knapp bemessen, dass es keinen Sinn macht, einzelne Teile an eine andere Person zu delegieren. In diesen unteren Leistungsgruppen überlagern sich darüber hinaus Themenbereiche. So kann z.B. während des gemeinsamen Geschirr-Spülens oder Papiere-Abheftens über die Situation am Arbeitsplatz gesprochen werden. Oder auf dem Weg zum Einkauf bekommt man (nebenbei) ein Problem geschildert, dass man beim gemeinsamen Gespräch am Tisch selbst auf Nachfrage hin nicht erfahren hätte. Selbst wenn man das Geschirrabwaschen theoretisch delegieren könnte, macht dies in den unteren LGs keinen Sinn, weil es zum einen nur einen geringen Zeitfaktor beträfe und zum anderen dies bei der qualifizierten Assistenz keine Zeit einsparen würde, weil die Tätigkeit dann durch eine andere ersetzt werden würde, während der man dann z.B. über die Situation am Arbeitsplatz sprechen könnte (z.B. bei einer gemeinsamen Tasse Kaffee).

In diesen unteren Leistungsgruppen sollte auch nicht versucht werden, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben an eine kompensatorische Assistenz zu delegieren. Diese Zeiten stellen einen wichtigen Ausgleich zu den in der Regel durch Probleme geprägten face to face Terminen dar (Ordnung im Haushalt, Bearbeiten von Ämter- und Behördenangelegenheiten, Auskommen mit wenig Geld, gesunde Ernährung, gesundheitliche Probleme, Konflikte im sozialen Umfeld etc.). Der gemeinsame Besuch eines Cafés, einer Veranstaltung, einer Ausstellung etc. ermöglicht dann wichtige andere, ausgleichende Beziehungserfahrungen.  

Bei Personen mit eigener Anleitungskompetenz erfolgt die Assistenz in der Regel durch kompensatorische Assistenzkräfte. Auch Aufgaben, die lediglich der zeitlichen oder räumlichen Orientierung dienen, können durch kompensatorische Assistenzkräfte abgedeckt werden. Insbesondere der hauswirtschaftliche und pflegerische Bereich sind ebenfalls geeignet, einzelne Aufgaben an kompensatorische Assistenten oder andere Dienste zu delegieren, wenn die Person selbst nicht mehr dazu in der Lage ist, sich darum zu kümmern.

Das Reinigen der Wohnung, das Wäsche-Waschen, der Wocheneinkauf von Lebensmitteln, all das sind Bereiche, die ggf. teilweise oder vollständig von einer kompensatorischen Assistenz übernommen werden können. Hierbei sollte aber versucht werden, Nischen zu finden, in denen die betroffene Person noch kleinere Aufgaben des Bedarfsbereiches selbst übernehmen kann, um darüber das wichtige Gefühl von Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit erhalten zu können. Zum Beispiel kann hierbei das Spülen des Frühstücksgeschirrs, das Zusammenlegen und Einräumen der Unterwäsche oder der Einkauf von Joghurt und Aufschnitt zum Erhalt des Selbstwertgefühls beitragen. Auch noch selber in ein Geschäft gehen und im Regal zwischen den verschiedenen Produkten selber auswählen zu können, trägt erheblich zum psychischen Wohlbefinden bei. Grundsätzlich geht es beim Einkaufen bei weitem nicht nur um die Beschaffung von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs. Es geht um eine ausgewogene, gesunde Ernährung, in der Regel um das Auskommen mit sehr wenig Geld, um die Möglichkeit, selber auswählen und entscheiden zu können, den Kontakt zu anderen Menschen und somit auch um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Gerade im hauswirtschaftlichen Bereich gibt es aber auch zeitaufwändige Routineabläufe, die gut von kompensatorischen Assistenten zur Entlastung der betroffenen Person und der qualifizierten Assistenz übernommen werden können. Ein gewisses Zeitbudget sollte aber auch hier weiter der qualifizierten Assistenz für diesen Bedarfsbereich zur Verfügung stehen, um die oben aufgeführten Aspekte abdecken zu können.

Ähnlich verhält es sich im Bedarfsbereich „Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“. Auch hier gibt es Bereiche, die gut von einer kompensatorischen Assistenz übernommen werden können. Die Begleitung ins Kino oder Stadion, die Assistenz beim Toilettengang während einer Veranstaltung. All das sind klassische Aufgaben einer kompensatorischen Assistenz. Gerade im Freizeitbereich bestehen häufig aber auch pädagogische oder psychosoziale Unterstützungsbedarfe. Die betroffenen Personen haben Probleme im sozialen Miteinander, verstehen konkrete Situationen falsch, reagieren unangemessen gereizt oder aggressiv. All das sind Situationen, wo eine ausgebildete Fachkraft als Begleitung benötigt wird, um Eskalationen vorzubeugen.

Eine qualifizierte Assistenz ist immer dort erforderlich, wo es um pädagogische oder psychosoziale Unterstützung oder den Erwerb von Kompetenzen geht. Solange ein pädagogischer Bedarf mit der Aufgabe verbunden ist, (während des Einkaufs über gesunde Ernährung sprechen etc.) bzw. die grundsätzliche Befähigung der Person zur eigenständigen Alltagsbewältigung im Raum steht, sollte nicht an eine kompensatorische Assistenz delegiert werden.

Eine weitere Ausnahme stellt spezielles bzw. herausforderndes Verhalten dar, das Nichtfachkräfte überfordern würde. Hier ist im Einzelfall zu entscheiden, welche Leistungen in welchen Bedarfsbereichen aus diesen Gründen von einer qualifizierten Assistenz erbracht werden müssen.

Kontakt

Fabian Lerbs

Am Erlengraben 12a
35037 Marburg

Tel.: 0176 2146 1844

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